Lav Diaz (geboren 1958) ist ein philippinischer Filmemacher, der von vielen als Elder Statesman des dritten Golden Age des philippinischen Kinos betrachtet wird. Seine Filme zeigen die Nöte der Menschen auf den Philippinen, unter dem Joch der spanischen und amerikanischen Kolonisation, während der autoritären Marcos-Ära und in der Diaspora. Vor den Festivalpremieren von NORTE, DAS ENDE DER GESCHICHTE (Cannes 2013) und FROM WHAT IS BEFORE (Locarno 2014), galt Diaz als uninteressant für den Kinomarkt außerhalb Asiens. Das lag in den Augen der Verleiher an den enormen Spiellängen seiner Filme, die von drei bis zehn Stunden reichten. Das gemächliche Tempo, in dem sich diese Filme entfalteten, spiegelt die malayische Ästhetik im Ansatz von Lav Diaz wider.
Die kurz aufeinanderfolgenden NORTE und FROM WHAT IS BEFORE zeigten einen neuen Grad der Produktivität und auch erweiterte Fördermöglichkeiten für Diaz. Die internationale Kritikreagierte äußerst wohlwollend auf die sichtbar größeren Budgets und „Produktionsstandards“ dieser Filme. Dem Publikum musste man nachsehen, dass es den Eindruck bekam, die einzigartige künstlerische Vision dieses Filmemachers käme aus dem Nichts: obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahrzehnte aktiv war, wurde NORTE zum ersten Film, der weltweit in vielen Ländern einen Vertrieb fand.
Diaz‘ Lehrjahre führten ihn in die „pito-pito“-Filmstudios der Philippinen, wo für Vorproduktion, Dreh und Postproduktion jeweils nur sieben Tage veranschlagt wurden. Von diesen frühen Werken enthält nur NAKED UNDER THE MOON (1999) Anzeichen seines späteren formellen Einfallsreichtums, auch wenn seine hypnotischen Qualitäten von Sexszenen unterminiert wurden, die das Filmstudio vorschrieb. Diaz‘ erstes wirkliches Meisterwerk war sein letzter auf Zelluloid gedrehter Film BATANG WEST SIDE, der die alltäglichen Kämpfe von migrantischen Communities in Jersey City zeigt. Kurz zuvor hatte Diaz bereits mit der Arbeit an dem epischen Film EVOLUTION OF A FILIPINO FAMILY (fertiggestellt 2004) begonnen, das erste seiner Werke, für das er MiniDV nutzte, ein für den Heimgebrauch gedachtes Digitalvideo-System, welches neue kreative Freiheiten ermöglichte. Ohne die technischen und finanziellen Grenzen, die das Arbeiten mit Filmmaterial mit sich brachte, wuchsen die Filme von Lav Diaz in der Länge, sowohl in den Einzelszenen, als auch die Gesamtlänge betreffend.
Der über den Zeitraum von zehn Jahren entstandene EVOLUTION zeichnet das schwierige Leben einer Bauernfamilie auf den Philippinen in den 1970er und 1980er Jahren nach. Mit der wachsenden Zugänglichkeit digitaler Kameras wurden Diaz‘ Filme zunehmend ambitionierter und bedienten sich zur Inspiration gleichermaßen bei russischer Literatur wie beim gegenwärtigen soziopolitischen Status quo der Philippinen. Die ästhetische Handschrift von Lav Diaz blieb während dessen immer intakt. In Anbetracht dessen zeigen seine zwei jüngsten Werke eine interessante Dichotomie: einerseits der achtstündige A LULLABY TO THE SORROWFUL MYSTERY, der sich als schier undurchdringlich für diejenigen zeigt, die sich nicht in philippinischer Geschichte und Literatur auskennen, andererseits der weniger als vier Stunden lange THE WOMAN WHO LEFT, Diaz‘ bis dato vielleicht zugänglichster Film.
REGIENOTIZ
Was macht uns zu menschlichen Wesen?
Als Inspiration für die THE WOMAN WHO LEFT diente Tolstois „Gott sieht
die Wahrheit, aber wartet“. Ich habe die Erzählung vor sehr langer Zeit gelesen.
Ich kann mich nur noch an die Grundzüge erinnern, die Geschichte und die
Namen der Figuren habe ich schon vergessen. Ich kann mich aber erinnern: was
mich damals beim Lesen wirklich getroffen hat, war die Erkenntnis, dass niemand
von uns wirklich das Leben versteht. Wir wissen nichts. Das ist eine der
wichtigsten Erkenntnisse unserer Existenz. Oder – das können vielleicht mehr
Leute verstehen – dass unsere Taten Konsequenzen haben. Und noch häufiger,
dass wir den Zufällen des Lebens unterliegen und sie aushalten müssen.